Die letzte Woche der Fastenzeit, welche auch die zweite Woche der Passionszeit ist, nennt die Kirche bei verschiedenen Namen: Hebdomada major, manchmal auch Hebdomada sancta. Zu deutsch „Große Woche“ bzw. „Heilige Woche“. Uns ist sie wohl als „Karwoche“ geläufig. Die Liturgien, die in dieser Woche gefeiert werden, sind mit Abstand die besondersten, außergewöhnlichsten und feierlichsten des römischen Ritus. Im folgenden wollen wir einen kleinen Überblick in die Liturgie des Palmsonntags geben: Sowohl in seiner traditionellen Form wie auch in jener, in der er im Messbuch von 1962 enthalten ist. „Ist das nicht dasselbe?“, mag man da fragen. Warum das eben nicht der Fall ist, soll in diesem Post ersichtlich werden. Dabei gibt es vie zu viele Punkte, die wir hier nicht alle behandeln können. Es geht also um einen ersten Einblick.
Im November 1955 erließ die hl. Ritenkongregation unter Papst Pius XII. ein Dekret mit dem Titel Maxima redemptionis, das zum 25. März 1956 in Kraft trat. Es schrieb die „restaurierte“, d.h. „wiederhergestellte“, Liturgie der Karwoche (Hebdomada sancta instaurata) für die gesamte lateinische Kirche verbindlich vor. Seit Beginn der 1950er Jahre war diese Form der Karwoche ad experimentum, d.h. auf Probe, zur Wahl gestellt worden – neben der traditionellen Liturgie, die viele Jahrhunderte unangetastet überdauert hatte. Sie sollte massive Eingriffe nicht nur in die Riten der Karwoche, sondern auch in die Liturgie insgesamt mit sich bringen. Wenn also im folgenden von der „traditionellen“ Liturgie gesprochen wird, ist die „vorpianische“ gemeint, nicht die ab 1956 gültige und auch im Missale von 1962 enthaltene. Von dieser Form gehen wir nun aus um die späteren Veränderungen, auch unter Berücksichtigung der jüngsten Reformen, aufzuzeigen.
Fangen wir beim Namen an: Palmsonntag. So heißt der erste Tag der Heiligen Woche auch bis 1956: Dominica in Palmis. Dieser Name hat sich universell im Volksmund eingebürgert und ist jedem geläufig, der die Karwoche einmal gefeiert hat. Er bezeichnete klar den Tag in seinem eigenen Charakter. Da verwundert es, dass er in der vermeintlich „restaurierten“ Karwoche zu allererst „Zweiter Passionssonntag“ heißt und dann nachgeschoben wird „oder auch Palmsonntag“ (Dominica II Passionis seu in Palmis). Die gesamte Liturgie wurde in violett gefeiert, sowohl Prozession als auch die Messe, denn sie sind nicht nur Teil der Passionszeit, sondern sind auch miteinander verbunden: Die Prozession stellt eine Art „Prisma“ dar, durch das die anschließende hl. Messe erleuchtet wird.
Ferner haben Prozessionen im eigentlichen Sinn im römischen Ritus Bußcharakter und sind deshalb in violett. Diakon und Subdiakon tragen nach uralter Tradition wie an allen Tagen der Quadragesima die sog. gefalteten Kaseln (planeta pliccata) und nicht Dalmatik und Tunicella, die festlichen und freudigen Charakter haben. Diese einzelnen Elemente kommen zusammen und zeigen deutlich: Alles steht im Zeichen der Passion und des Kreuzes des Herrn.
Vor der Hl. Messe werden die Palmen auf dem Altar gesegnet, um anschließend mit ihnen in Prozession zu ziehen. Sie erhalten einen umfangreichen, besonders feierlichen Segen, der eindrucksvoll die Heiligkeit dieses Tages, der Prozession und der Palmen verdeutlicht. Sie werden zu Sakramentalien. In der traditionellen, vorpianischen Form haben wir am Palmsonntag eine liturgische Rarität bewahrt: Eine sog. Missa sicca, eine „trockene Messe“ (ohne Wandlung). Das ist erkennbar daran, dass die Palmsegnung mit einem Introitus, eine Oration, gefolgt von einer Lesung (Ex 15, 27; 16, 1-7), einem Graduale und einem Evangelium (Mt 21, 1-9) – wie in der hl. Messe – beginnt, anschließend eine Präfation mit Sanctus und schließlich den fünf eigentlichen Segensgebeten – analog zum Canon – vollzogen wird. Diese Epistel ist von immenser Wichtigkeit für das Verständnis aller Riten der Karwoche. Sie stellt uns das Brot vor Augen, das im Alten Bund vom Himmel herabkam. Uns hingegen ist das wahre Brot vom Himmel geschenkt, Jesus Christus selbst in der allerheiligsten Eucharistie (vgl. Joh 6, 51).
Nach der Besprengung mit Weihwasser und der Inzens folgt ein sechstes Gebet. Die Verwendung einer eucharistischen Präfation bei besonderen Segnungen und Weihen ist im klassischen römischen Ritus nicht unüblich. Denken wir an Kirchweih, das Weihesakrament, die Chrisamweihe und Segnung der Osterkerze. Die Missa sicca zur Palmweihe zeichnet die Segnung der Palmen somit besonders aus und verdeutlicht die ungemeine Heiligkeit der Karwoche. Die Austeilung der Palmen erfolgte, indem die Gläubigen einzeln die Palme und dann die Hand des Priesters küssten. Darauf folgte ein Gebet zu Beginn der Prozession, die sich anschließend in Bewegung setzt – das Prozessionskreuz verhüllt.
Zur Musik der Prozession wollen wir an dieser Stelle nichts sagen, doch auch hier lohnt sich der Blick. Wenn die Prozession an der Kirchentür ankommt, wird diese von innen verschlossen. Es beginnt ein symbolträchtiger Ritus, bei dem zwei Kantoren von innen im Wechsel mit der Schola draußen das Gloria, laus et honor singen. Anschließend stößt der Subdiakon mit dem Fuß des Kreuzes die Kirchentür auf und die Prozession zieht ein. Papst Benedikt XVI. sagte dazu:
„In der früheren Liturgie des Psalmsonntags pochte beim Ankommen am Kirchengebäude der Priester [bzw. Subdiakon] mit dem Vortragekreuz mächtig an die verschlossene Kirchentür, die sich auf das Pochen des Kreuzes hin auftat. Das war ein schönes Bild für das Geheimnis Jesu Christi selbst, der mit dem Stab seines Kreuzes, mit der Kraft seiner sich verschenkenden Liebe von der Welt her an das Tor Gottes klopfte; von einer Welt her, die den Zugang zu Gott nicht finden konnte. Mit dem Kreuz hat Jesus die Tür Gottes, die Tür zwischen Gott und Mensch aufgestoßen. Sie steht offen.“
Papst Benedikt XVI.: Predigt am Palmsonntag, 1. April 2007.
Nach Ende der Prozession folgte die Feier der hl. Messe wie üblich mit Introitus und mit Stufengebet. Die Passion ist Mt 26, 1-75 und 27, 1-66, wobei die letzten Verse als Evangelium und in einem eigenen, rührenden Ton gesungen werden. Zum Evangelium und zur Wandlung halten die Gläubigen und der Klerus im Chor ihre Palmen in den Händen – ein starkes Zeichen der Beziehung zwischen Prozession und Messe. Es ist derselbe Herr, der in königlichem Purpur in Jerusalem einzog, im Evangelium verkündet wird und auf dem Altar sein heilbringendes Opfer erneuert. Die Messe endet mit Benedicamus Domino statt Ite, Missa est, wie es seit ältester Zeit in Messen ohne Gloria üblich war, der Johannesprolog wird wie üblich als Schlussevangelium gelesen.
Bereits äußerlich gab es Veränderungen. Prozession und Messe werden nicht mehr in derselben Farbe gefeiert, sondern erstere in rot und letztere in violett. Die gefalteten Kaseln wurden abgeschafft und durch Dalmatik und Tunicella ersetzt – ein Bruch mit einer ausdrucksstarken und uralten Tradition. Dies hatte zur Folge, dass alle Minitri vor der Messe ihre Gewänder wechseln müssen. Häufiges Wechseln der Gewänder ist ein auffälliges Kennzeichen dieser „Reform“. Es gibt noch andere „kleinere“ zeremonielle Änderungen, die eingeführt wurden und welche im Gegensatz zur sonstigen Praxis stehen. So wird der Priester nach dem Evangelium der Segnung nicht inzensiert, wie es sonst im Levitenamt vorgesehen ist.
Von den sechs Gebeten der eigentlichen Palmsegnung hat man in der Reform von 1955 nur ein einziges beibehalten (Benedic quæsumus Domine). Die übrigen wurden ersatzlos gestrichen, ebenso wie das zu Beginn der Prozession. Die uralte Struktur der Missa sicca wurde zerstört, nur Einzugsvers und Evangelium blieben übrig. Dieses wird nun nach der Austeilung der Palmen gesungen und nicht mehr vorher. Die Palmsegnung soll nun auf einem Tisch in der Mitte des Altarraumes zum Volk gewandt erfolgen, was logistische und zeremonielle Probleme verursacht. Weiterhin ist es nun erlaubt – aber weder vorgeschrieben noch präferiert – dass die Gläubigen die Palmen bereits in Händen halten.
Die Prozession wird jetzt stark auf das Königtum Christi hin gedeutet, auch durch die Gesänge und Überschriften im Missale. Gleichzeitig verzichtete man aber auf die traditionelle königliche Farbe des Purpur (Violett). Der Ritus am Portal der Kirche ist getrichen. Das Prozessionskreuz ist nicht mehr verhüllt. Alle Bilder in der Kirche sind es hingegen weiterhin, und auch das Prozessionskreuz wird nach der Liturgie wieder verhüllt. So sind zusammen mit dem Wegfall der violetten Farbe und der gefalteten Kaseln die drei klassischen Zeichen von Trauer und Buße verschwunden, die den Charakter des Palmsonntags als Ankunft am Ort der schmerzhaften Passion Christi auszeichneten. Weiterhin hat man ein Abschlussgebet zur Prozession eingefügt.
Die Messtexte sind bis auf folgende Punkte identisch. Die Passion ist stark gekürzt (Mt 26, 1-35 und 27, 61-66 fehlen) und es gibt kein eigenes Evangelium mehr. Mit dieser Kürzung, die übrigens auch die Passionen der folgenden Kartage betrifft, sind sämtliche Berichte von der Einsetzung des hl. Altarsakramentes aus der Liturgie getilgt worden. Sie werden nicht mehr gelesen – fehlt somit ein entscheidender Brennpunkt der gesamten Karwoche. Das Stufengebet wird gestrichen, obwohl gleichzeitig der Introitus gesungen wird. Dies führt zu der Kuriosität, dass die Leviten bzw. der Priester nun am Fuße des Altares warten müssen ohne etwas zu tun – eine Zeit, in der man auch sinnvollerweise das Stufengebet verrichten könnte. Die Palmen sollen nicht mehr zu Evangelium und Wandlung gehalten werden und die Messe endet nun mit Ite, Missa est. Das Schlussevangelium ist gestrichen.
Im Missale Pauls VI. heißt der Tag nun Dominica in Palmis de Passione Domini („Palmsonntag von der Passion des Herrn). Er wird vollständig in roter Farbe gefeiert. Der Priester trägt meist durchgängig eine Kasel und keinen Chormantel mehr, obwohl dieser genommen werden kann. Die Palmen werden gar nicht mehr ausgeteilt, sondern die Gläubigen halten sie bereits in Händen. Es gibt für den Einzug drei verschiedene Formen (einer mit Segnung der Palmen, einer in „feierlicher“ Form und einer in „einfacher“ Form). Die Passion darf nun von Laien gesungen werden (sogar vollständig), was sogar in der Reform von 1955 strikt untersagt war. Sie wird fast nur noch gelesen und nicht mehr gesungen.
Dieser kurze Überblick zeigt, wie viel von der traditionellen Palmsonntagsliturgie in den letzten Jahrzehnten verloren gegangen ist, sowohl inhaltlich wie auch zeremoniell und strukturell. Es wird auch deutlich, dass die „reformierte“ Version von 1955 einen Übergangsritus darstellte und den Ritus von 1969 vorbereitete. Zu jedem der Punkte wäre noch einiges mehr zu sagen, ebenso wie die hier genannten Punkte nicht die Fülle aller Änderungen wiedergeben. Einige der Punkte, etwa die gefalteten Kaseln, sind auch nur im weiteren liturgischen Kontext verständlich, denn seit 1960 gibt es sie gar nicht mehr.
Dieser Artikel basiert auf dem außerordentlichen Werk von Gregory DiPippo, das auf New Liturgical Movement veröffentlicht wurde und hier mit seinem ausdrücklichen Einverständnis ins Deutsche übertragen und ergänzt wurde.